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Ein Blick in die Geschichte der Arbeitsgemeinschaft
Tief enttäuscht kehrte im Frühjahr 1981 Artur Menzen von einem Großtauschtag zurück. Zum wiederholten Male war er leer ausgegangen. Nicht eine Marke hatte er eintauschen oder kaufen können. Bund-, Berlin-, ja, sogar DDR-Material gab es in Hülle und Fülle. Von Estland dagegen keine Spur.
Gerade einmal 164 Michel-Nummern zählte das baltische Land seinerzeit. 1940 schien es seine Unabhängigkeit für immer eingebüßt zu haben. „Die Marken dieses gegen Ende des 1. Weltkrieges entstandenen balt. Staates, der endgültig 1945 der Sowjetunion einverleibt wurde, werden, da es sich um ein abgeschlossenes Gebiet ohne Neuheiten handelt, wenig gesammelt“, notierte denn auch Ullrich Häger in seinem „Großen Lexikon der Philatelie“ (zitiert nach Ausgabe 1974/75, Bertelsmann Lexikon-Verlag, Gütersloh, Berlin, München, Wien). Dass auf einem Tauschtag einmal zwei Estland-Liebhaber zusammentreffen würden, war also kaum wahrscheinlich. Artur Menzen und Gleichgesinnte konnten nur darauf hoffen, interessante Einzelstücke zu entdecken, denen Freunde anderer Gebiete weniger Interesse entgegenbrachten.
Großes Echo
Das genügte Menzen nicht. Am 21. Mai 1981 gab er deswegen zwölf Briefe auf die Post, gerichtet an ihm bekannte Estland-Sammler. In dem Schreiben lud er zu einem Treffen am 7. und 8. November in Dortmund ein. Als Programm für das Wochenende schlug er vor:
„1.) ein philatelistischer Vortrag
2.) Tausch- bzw. Verkaufstag
3.) eine Mini-Auktion“
Die Resonanz überraschte ihn sehr. Dank Mundpropaganda meldeten sage und schreibe 71 Liebhaber des baltischen Landes Interesse an. 25 sagten ihre Teilnahme zu, 23 fanden sich schließlich ein. Sie kamen aus Schweden, Finnland und den Niederlanden sowie aus allen Teilen Deutschlands. Prominentester Besucher war zweifellos Vambola Hurt, der 1986 mit Elmar Ojaste das Estland-Handbuch herausgeben sollte. Erich Meyer referierte in Dortmund über die „Vorphila-Postroute Narva–Reval“. Briefmarken und Sammlungen im Wert von bis zu 8000 Mark wechselten den Besitzer, wie die „Ruhr-Nachrichten“ berichteten. Auch der „Dortmunder Rundschau“ war das erfolgreiche Treffen einen Artikel wert. Die Teilnehmer beschlossen, einen Arbeitskreis zu gründen und fortan regelmäßig zusammenzukommen.
Mit der zweiten Veranstaltung 1982 in Ratzeburg begann die Forschungsarbeit der Gruppe. Artur Menzen kündigte an, „den Bestand und die Verwendung u.a. der estnischen Ganzsachen mit Landschaftsbildern im Rahmen einer umfassenden Umfrage zu ermitteln.“ Nach weiteren Begegnungen in Würzburg und Karlsruhe machte der Arbeitskreis 1985 in Soest erstmals eine größere Öffentlichkeit auf das Sammelgebiet aufmerksam und organisierte die „Baltica '85“ im historischen Rathaus. Nicht weniger als 13 der 27 Exponate erhielten eine Urkunde im Range einer Goldmedaille zugesprochen.
Parallel zur Ausstellung erfand sich der Arbeitskreis neu. 32 Sammler aus Deutschland, den Niederlanden, Australien und England gründeten am 5. Oktober 1985 die ARBEITSGEMEINSCHAFT ESTLAND, die sich selbstverständlich dem Bund Deutscher Philatelisten anschloss. Artur Menzen übernahm den Vorsitz. Erich Meyer wurde sein Stellvertreter, Harald Vogt Kassenprüfer. Noch im selben Jahr erschien die erste Ausgabe unserer eigenen Zeitschrift, der EESTI POST. Menzen zeichnete als Redakteur für den Inhalt verantwortlich, Verleger Paul von Sengbusch für Druck und Vertrieb. Bereits 1987 erhielt die Zeitschrift eine Goldmedaille auf der „Philibri '87“ in Soest.
Erste Reise nach Estland
Fanden die Versammlungen anfangs an verschiedenen Orten statt, etablierte sich ab 1988 Soest als Heimatstadt der Arbeitsgemeinschaft. Große Verdienste darum erwarb sich Rolf-Dieter Heimann, der unter anderem Werbeschauen organisierte. Mit dem Bankrott des Sowjetkommunismus’ 1989/90 konnte die Arbeitsgemeinschaft die Kontakte nach Estland ausbauen. Noch 1989 fuhr Erich Meyer nach Tallinn und traf dort mit Uuno Kuusik zusammen, den späteren Präsidenten des EESTI FILATELISTIDE LIIT (Estnischer Philatelisten-Bund). Im Folgejahr stellten fünf estnische Sammler auf der „Baltica '90“ in Soest aus. 1991 organisierte die Arbeitsgemeinschaft ihre erste Reise nach Estland. Ziel war die „Eestica '91“ in Tallinn. Noch gab es zwar keine estnischen Briefmarken. Zwei Sonderstempel in estnischer Sprache, Ganzsachen mit Handstempelaufdruck „EESTI POST“ und andere Besonderheiten wiesen aber deutlich darauf hin, dass die markenlosen Tage gezählt waren. Hägers Aussage, Estland sei „endgültig der Sowjetunion einverleibt“ worden, teilte das Schicksal vieler historischer, politischer und ökonomischer Prognosen.
1991 kam die Michel-Nummer 165 an die Schalter, Teil des ersten Satzes mit dem estnischen Wappen. Sofort wandten sich Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft auch den Ausgaben der zweiten Republik zu. Selbstverständlich stießen nicht nur die amtlichen Postwertzeichen auf Interesse. Auch die Übergangsphase, in der sowjetische Briefmarken und Ganzsachen parallel galten, wurde umfassend dokumentiert. Dass auch heute noch viele Fragen offen sind, wollen wir an dieser Stelle nicht verschweigen.
1993 erhielt die EESTI POST auf der „Naposta“ eine Großsilbermedaille. Zwei Jahre später feierte die Arbeitsgemeinschaft ihr zehnjähriges Bestehen mit der „Baltica '95“ in Soest. Je sechs Gold- und Vermeil- sowie drei Silbermedaillen gingen an verschiedene Mitglieder. Die Festansprache hielt seine Exzellenz Tiit Matsulevits, Botschafter Estlands in Deutschland. Auf der „Baltica“ 2001 zeichnete die Jury die EESTI POST mit einer Silbermedaille aus.
Endlich ein Prüfer
2003 fand die „Mare Balticum“ in Kiel statt. An der Rang-1-Ausstellung nahmen nicht nur zahlreiche Vertreter der Arbeitsgemeinschaft erfolgreich teil. Es gelang auch, erstmals einen gemeinsamen Informationsstand der drei baltischen Arbeits- und Forschungsgemeinschaften einzurichten. Eine Vielzahl Interessenten nutzte die Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch. Für die ARBEITSGEMEINSCHAFT ESTLAND brachte das Jahr eine Zeitenwende. Artur Menzen und Max Kromm traten aus gesundheitlichen Gründen von ihren Ämtern als Erster und Zweiter Vorsitzender zurück. Dr. Peter Feustel und Thomas Bratke übernahmen die Ämter. Menzen wurde einstimmig zum Ehrenvorsitzenden gewählt. Bereits zu Beginn des Folgejahres musste Dr. Feustel den Nekrolog auf Artur Menzen verfassen.
Erstmals seit Jahrzehnten konnte 2004 das Amt des Prüfers für Estland wieder besetzt werden. Thomas Löbbering untersucht Marken, Stempel und Ganzsachen der ersten Republik. Im gleichen Jahr beschloss die Arbeitsgemeinschaft, sich in das Vereinsregister eintragen zu lassen. Seit März 2005 liegt die Urkunde vor. Die nunmehr juristische Person „ARBEITSGEMEINSCHAFT ESTLAND e.V. im BDPh e.V.“ zählte 97 Mitglieder sowie zwei korrespondierende Mitglieder.
Trotz insgesamt nachlassenden Interesses an der Philatelie ist es der Arbeitsgemeinschaft Estland gelungen, die Mitgliederzahl annähernd konstant zu halten. Nur die Altersstruktur bereitet uns etwas Kopfzerbrechen. Inzwischen hat auch das jüngste Mitglied die „4“ vorn zu stehen. Wir wissen natürlich, dass auch andere Vereine dieses Phänomen kennen, wollen aber unseren Beitrag dazu leisten, jüngere Sammler für die Philatelie und unser Gebiet zu gewinnen. Dass die Möglichkeiten einer Gruppe von Spezialisten arg beschränkt und folglich vor allem Einzelinitiativen gefragt sind, ist uns bewusst.
Zahlreiche Mitglieder beteiligen sich an nationalen und internationalen Ausstellungen und werben für die estnischen Marken. Die Redaktion der EESTI POST kann auf einen sehr großen Stamm erfahrener Autoren zurückgreifen. In ihrer Bewertung hob die Jury der Rang-1-Ausstellung „Lipsia 2007“ die Vielfalt der Beiträge und die große Zahl Mitarbeiter besonders heraus. Die EESTI POST bekam Vermeil zugesprochen – eine Auszeichnung, die ganz besonders dem langjährigen Redakteur Karl Lukas gilt, der sein Amt im Herbst desselben Jahres aus gesundheitlichen Gründen abgeben musste. Einstimmig wählten ihn die Mitglieder zum Ehrenmitglied.
Zwei Ehrenmitglieder, Max Kromm und Harald Vogt, stehen trotz gesegneten Alters an der Spitze der Publizisten. Sämtliche Schriften aufzulisten, würde den Rahmen sprengen. Doch schon Titel wie „Absenderfreistempel“, „Anfangsjahre der Estnischen SSSR“ und „Zweisprachige Schmuckblatttelegramme“ zeigen auf, dass die beiden Berliner die Estland-Philatelie aus höchst verschiedenen Blickwinkeln betrachten.
Seit 1918 erschienen rund 600 Briefmarken. Somit gehört Estland zu den überschaubaren Sammelgebieten. Hinzu kommen die Ausgaben, die während der deutschen Besetzung zwischen 1941 und 1944 aufgelegt wurden, sowie diverse Lokalprovisorien. Selbstverständlich kann man auch russische oder sowjetische Marken mit estnischen Stempeln zusammentragen. Zu Zeiten der sowjetischen Herrschaft gab die Post zudem verschiedene Marken und Ganzsachen heraus, die estnischen Themen gewidmet waren. Ein interessantes Gebiet stellen auch die Aktivitäten estnischer Exilgruppen dar. Der Möglichkeiten, sich Estland philatelistisch zu nähern, sind also viele. Alle Sammler finden in der Arbeitsgemeinschaft Estland Gleichgesinnte und Freunde. Heute braucht daher niemand mehr enttäuscht vom Tauschtag heimzukehren.
Zitate ohne Quellenangabe stammen aus: Max Kromm/Dr. Peter Feustel: Chronik des Arbeitskreises Estland; Berlin und Barsbüttel 2005