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Estland und seine Briefmarken
(Autor: Torsten Berndt)
Die philatelistische Zeit Estlands begann fremdbestimmt. Der Zar verweigerte den Balten das eigene Postregal. Bis zur Unabhängigkeit (Blick ins Geschichtsbuch) mussten sie daher russische Briefmarken verwenden. Tagesstempel mit kyrillischer Schrift legen Zeugnis davon ab. Einige Stücke aus jenen Tagen zusammenzutragen, ist nicht nur für Heimatsammler interessant. Belege und Einzelmarken dokumentieren auch ein Stück estnischer und letztendlich europäischer Geschichte.
1918 mochte man in Rakwere nicht warten, bis endlich nationale Briefmarken vorlagen. Am 16. November 1918 erschienen dort Aufdruckprovisorien mit der Landesangabe "Eesti". In Klammern wurde eine Zeile weiter der Ort genannt. Es folgte die Wertangabe in Kopeken. Als Urmarken dienten Ausschnitte aus russischen Streifbändern mit dem Adler-Motiv von 1891 oder der Zar-Peter-Zeichnung von 1913. Wie so häufig bei Lokalprovisorien kann man über den postalischen Wert dieser vier Marken wohl streiten - nur sechs Tage später kam landesweit die erste reguläre Briefmarke an die Schalter. Entsprechend lange währte die Gültigkeit des Rakwerer Quartetts. Bereits am 27. November 1918 mussten alle Bestände verbraucht sein. Zweifellos gehören die vier Marken zu den europäischen Raritäten von Rang. Von der Michel-Nummer 4 entstanden ganze 26 Stück. Am häufigsten wurde die Nummer 2 verkauft - 402 mal.
Noch seltener sind einige Provisorien aus Tallinn. Ab 7. Mai 1919 bot die Post russische Marken mit schrägem Aufdruck "Eesti Post" an. Gleich 14 Werte umfasste der Satz, einige davon in gezähnter und geschnittener Ausführung. Ausschließlich in der Hauptstadt angeboten, galten sie bis 30. September 1919 im ganzen Land. Die 5-Penni-Marke mit der Michel-Nummer 4 A erreichte die größte Stückzahl - 3803. Die Michel-Nummer 1 A, eine gezähnte Marke zu einem Penni, ist seltener als die legendäre Blaue Mauritius. Sieben Exemplare gingen über den Posttresen.
Die Nummer 1
Doch kommen wir zu den regulären Ausgaben Estlands. Noch zahlte man mit Rubel und Kopeken, als am 24. November 1918 eine rötlichorange Marke mit schlichtem Blumenmuster an den Schaltern vorlag. Wie die erste Briefmarke der Welt war sie ungezähnt, wie die britische "Penny black" entstand sie im Stichtiefdruck. Die Wertstufe, fünf Kopeken, entsprach dem Postkartenporto im Inland. Auch einen Ortsbrief konnte man mit einer Marke freimachen, vorausgesetzt, er wog nicht mehr als 15 Gramm. Für jeweils weitere 15 Gramm gehörte eine zusätzliche Marke auf das Kuvert. Beim Inlandsbrief kosteten 15 Gramm 15 Kopeken.
Ihn konnte man ab 30. November mit einer Marke frankieren. Sie zeigte dasselbe Motiv und war in Blau gehalten. Erstmals experimentierte die Post mit der Linienzähnung. 3000 Stück kamen gezähnt an die Schalter. Ihnen standen gut 3,5 Millionen geschnittene Exemplare gegenüber. Das Estland-Handbuch von Vambola Hurt und Elmar Ojaste katalogisiert von beiden geschnittenen Werten unterschiedliche Auflagen.
Neue Währung
Als am 1. Januar 1919 Mark und Penni die russische Währung ablösten, verwendete man zunächst die Erstlinge weiter. Am 18. Januar kam dann eine 35-Penni-Marke heraus, die der Michel-Katalog in vier, das Handbuch in nur drei verschiedenen Farbtönen führt. Fünf Tage darauf folgte als letzte eine 70-Penni-Marke im Blumenmuster. Seinerzeit musste man einen Inlandsbrief mit 35 Penni je 15 Gramm frankieren. Für niedrigere Tarife, beispielsweise die Postkarte zu 15 Penni, gab es anfangs nur Briefmarken in russischer Währung.
Am 13. Mai änderte sich dies mit dem ersten Wert, der zwei fliegende Möwen zeigte. Fünf Penni betrug der Postpreis, so dass sich alle Portostufen bilden ließen. Zwei Tage später gab die Post eine weitere 5-Penni-Marke in einfacher Ziffernzeichnung heraus. In den kommenden Monaten erschienen zwei weitere Möwen- und zwei Ziffernmarken. Zudem gelangte eine Marke zu 15 Penni mit dem Bild einer stilisierten Sonne an die Schalter. Ebenfalls 1919 legte die Post zwei Ausgaben mit dem Bild eines Wikingerschiffes vor. Ihre Wertangaben, eine und fünf Mark, erscheinen auf den ersten Blick hoch. Die starke Inflation jener Tage machte sie aber zur Massenware. Ab 1. Juli 1920 kostete ein Ortsbrief eine, ein Fernbrief zwei Mark für jeweils 15 Gramm. Im Katalog notieren die Mark-Werte denn auch mit eher bescheidenen Preisen. Ohnehin belastet eine Estland-Sammlung den Geldbeutel wenig. Die teuren Marken sind fast ausschließlich Varianten billigerer Stücke. Niemand muss großes Geld investieren, um Estland komplett zu bekommen.
Luftpost-Spitzenstücke
1920 begann Estland mit der Herausgabe von Luftpost- und Zuschlagsmarken. Die erste Luftpostmarke war dreieckig und zeigte einen Doppeldecker des Systems Schneider. Drei Jahre später kam die Marke mit verschiedenen Aufdrucken an die Schalter. Jeweils ein Kehrdruckpaar erhielt im Buchdruck eine neue Wertangabe. Bei den Stücken zu zehn und 20 Mark mit den Michel-Nummern 43 und 44 erprobte man erneut die Linienzähnung. Als gelungen kann das Experiment nicht betrachtet werden; die Marken wirken eher gerupft denn sauber getrennt. Beide Varianten gehören aber wegen ihrer geringen Auflage - 300 und 2000 Exemplare - zu den Spitzenstücken einer etwas spezialisierteren Estland-Sammlung. Ein großer Teil der erhalten gebliebenen Briefe mit diesen Marken dürfte von Philatelisten aufgegeben worden sein. Postalisch wurden die Marken aber benötigt; die Erstausgabe für die Zusatzgebühr für "Eisflugsendungen", die Provisorien zur Frankatur von Sendungen, die zwischen Tallinn und Riga sowie Tallinn und Helsinki auf dem Luftweg befördert wurden. 1924 gab Eesti Post fünf ansprechend gestaltete Luftpostmarken heraus.
Die Erlöse der ersten Zuschlagsmarken kamen Kriegsopfern zugute. Bedenkt man die geringe Einwohnerzahl Estlands, können Auflagen von jeweils knapp 500.000 Stück als äußerst hoch bezeichnet werden. Zwei Zuschlagsmarken für das Rote Kreuz erzielten 1921 noch bessere Verkäufe. Von den folgenden Ausgaben konnte die Post dann deutlich weniger Exemplare absetzen. Recht teuer sind daher die Wohlfahrtsmarken von 1923, die es geschnitten und gezähnt auf jeweils rund 10.000 Stück brachten. Ein besonders schöner Zuschlagssatz mit Ansichten aus Kuressaare, Tartu, Tallinn und Narva kam 1927 an die Schalter. Auf den Verkaufserfolg wirkten sich die gelungenen Motive aber nicht aus. Nur 18.709 mal griffen die Kunden bei der Marke zu fünf plus fünf Mark zu, nur 14.529 mal beim Wert zu 40 plus 40 Mark.
Erneute Währungsreform
Zum 1. Januar 1928 gelangte neues Geld in den Umlauf. 100 Senti bildeten eine Krone. Erst am 24. Februar reagierte die Post. Marken der Serie "Handwerker" von 1922 und 1925 erhielten Aufdrucke mit der neuen Wertangabe. Ende des Jahres kamen dann Dauermarken heraus, die ihrem Namen gerecht wurden. Bis zum sowjetrussischen Einmarsch 1940 blieb der Satz mit den drei Wappenlöwen an den Schaltern. In den dreißiger Jahren machte die Post mit schönen Sonder- und Zuschlagsmarkensätzen auf das Land aufmerksam. Ausgaben würdigten beispielsweise das Sängerfest, die Klosterruine von Pirita (St. Brigitten) oder den Kurort Pärnu. 1938 und 1939 erschienen kurz hintereinander vier Blocks, die wohl vor allem in Sammlerhände fielen; auf Auktionen angebotene gebrauchte Stücke weisen sehr oft den Erstausgabetag als Stempeldatum auf.
Nach der sowjetrussischen Annektion von 1940 erschienen noch fünf Marken mit Inschrift "Eesti Post" oder "Eesti". Sie waren noch zu Zeiten der Unabhängigkeit vorbereitet worden. Zum 1. Januar 1941 setzten die neuen Machthaber die estnischen Marken außer Kurs. Bis zum deutschen Einmarsch Mitte 1941 mussten die Esten sowjetische Briefmarken benutzen. Unter deutschen Herrschaft erschienen zunächst verschiedene Lokalausgaben, darunter auch Marken mit Inschrift "Eesti". Schließlich galten Marken mit Inschrift "Ostland", bis die Rote Armee Estland 1944 erneut besetzte. In den Jahren bis 1991 beweisen nur Stempel die Verwendung sowjetischer Ausgaben in Estland.
Neubeginn
Knapp anderthalb Monate nach der Unabhängigkeitserklärung erschien am 1. Oktober 1991 die erste Dauerserie der zweiten Republik. Die Herstellung übernahmen mit der Wertpapierdruckerei Leipzig und der Banknotendruckerei im schwedischen Kista zwei Häuser von Weltrang. Der edle Stichtiefdruck hebt die erste Dauerserie von ihren Nachfolgerinnen positiv ab. 1992 kamen von ihr Werte mit Buchstaben-Nominalen an die Schalter. Postalisch meisterten sie den Übergang vom Rubel zur Krone. Ab 1993 erschienen nach und nach im Offsetverfahren hergestellte Wappen-Marken mit Wertangaben in Senti und Kronen.
Am 1. November 1991 folgten zwei Marken mit Abbildung der estnischen Fahne und einer Europa-Karte mit eingeklinkter Estland-Karte. Man kann sie wie der Michel-Katalog als Dauermarken, aber auch als erste Sondermarken der zweiten Republik einstufen. Drei Zuschlagsmarken zu den Olympischen Sommerspielen 1992 in Barcelona trugen noch Wertangaben in Rubel. Verkauft wurden sie aber erst ab 22. Juni, also zwei Tage nach der Währungsreform. Am 3. Oktober erschien einer der schönsten Sätze der estnischen Philatelie überhaupt. "Mare Balticum" stand auf dem Heftchen, das als Gemeinschaftsausgabe in Estland, Lettland, Litauen und Schweden erschien. Die Vogelmotive dürften jeden Sammler überzeugen.
Ein eher überflüssiges Provisorium machte im Dezember 1991 in Tartu Schlagzeilen. Einen Monat lang verkauften die Postämter Papierstreifen, in welche die Wertstufe gelocht wurde. Zwischen Januar und Juni 1992 wurden damit am Schalter aufgelieferte Sendungen frankiert. Allein schon die Wertangaben lassen zumindest auf philatelistischen Einfluss schließen. Im ersten Halbjahr 1992 betrug das Porto für einen Luftpostbrief nach Übersee 40 Rubel. Der Höchstwert des Lochstreifensatzes hatte dagegen die Nominale 104,70 Rubel.
Mit einem zurückhaltenden Ausgabeprogramm gewann die estnische Post in den neunziger Jahren zahlreiche Freunde in aller Welt. Die Nennwerte der Marken entsprechen den gängigen Portosätzen. In der Regel erscheinen Marken aus nationalem Anlass oder zu internationalen Ereignissen. Eine der teuersten Ausgaben erinnert an eine der größten Tragödien der Ostseeschifffahrt. 1994 versank die Fähre "Estonia" und riss hunderte Menschen in den Tod. Die 20 Kronen Zuschlag zugunsten der Opfer des Unglücks waren natürlich happig, insbesondere für Sammler in Estland selbst. Trotzdem gelang es der Post, mit gut 100.000 Exemplaren mehr Marken zu verkaufen als vom "Via Baltica"-Block des Folgejahres, der nicht einmal halb so teuer war. Briefmarkensammler haben eben Herz - man darf sie nur nicht mit ständigen Zuschlagsausgaben zu schröpfen versuchen.